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„Lasst uns endlich anfangen! Modelle gibt es genug“
Bildungsakademie diskutiert über Kompetenzen der Therapeuten
„Therapeuten sind keine Hilfsarbeiter für die Ärzte. Sie sind Meister ihrer eigenen Kunst“, betont der ehemalige Vizekanzler und Bundessozialminister Franz Müntefering. Und der Beauftragte für Patientinnen und Patienten der jetzigen Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, appelliert: „Organisieren Sie sich. Wenn es eine Ärztekammer gibt, sollte es auch eine Pflegekammer geben. Bei allen Verhandlungen sitzen Ärzte, Pharmazie-Unternehmen, Kassen und Kostenträger an einem Tisch: Nur nicht die Vertreter der Pflege.“
Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Ausbildung von Ergo- und Physiotherapeuten in Bestwig hatte die Bildungsakademie für Therapieberufe am Mittwochnachmittag zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion ins Bestwiger Bürger- und Rathaus geladen. Und sie wollte den Politikern einen „Therapievorschlag“ zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum mitgeben: indem die Therapeuten eigenständiger agieren und Ärzte entlasten dürfen.
Standortfaktor im ländlichen Raum
„Für unsere Region ist das ein wichtiges Thema. Denn die Gesundheitsversorgung wird im ländlichen Raum zu einem immer wichtigeren Standortfaktor“, bestätigte Bestwigs Bürgermeister Ralf Péus. Und als stellvertretender Landrat des Hochsauerlandkrieses fügte Ferdi Lenze hinzu: „Die Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang auf die Pflegeberufe zu lenken, ist sehr zu begrüßen.“
Schwester Johanna Guthoff, Provinzoberin der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel, dankte der Bildungsakademie für ihr Engagement: „Wenn Sie in diesem Jahr Geburtstag feiern, ist es geradezu ‚typisch SMMP‘, dass Ihnen das allein nicht genug ist. Ihnen geht es auch darum, über das, was hier geleistet wird, hinauszuschauen auf die Situation, die sich in der Gesellschaft, in der des ländlichen Raumes unserer Heimat, zeigt.“
Die Debatte um die Stellung der Pflegeberufe ist komplex. Auch das machte dieser Nachmittag deutlich. Einig waren sich die Gäste darin, dass das deutsche Gesundheitssystem zu sehr auf die Ärzte fixiert ist und dass es mehr interprofessionelle Zusammenarbeit geben muss. „Wir haben hier 18 bis 20 Kontakte mit Ärzten pro Einwohner im Jahr. Wir sind Weltspitze bei der Häufigkeit von Linksherzkathetern und Wirbelkörper-Operationen. Und für letztere gibt es gar keine Evidenz, dass das etwas bringt“, nannte Professor Dr. Ferdinand Gerlach Fakten.
Mehr Entscheidungsfreiheit
Auf der anderen Seite, so der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, belegten Studien, dass 70 Prozent der Patienten nach einer Zweitberatung von einer Rücken-OP absehen und sich lieber konservativ, also therapeutisch behandeln ließen.
In Fortbildungen zur manuellen Medizin habe er als Teilnehmer selbst gestaunt, dass Ergo- und Physiotherapeuten oft viel mehr über den Bewegungsapparat des menschlichen Körpers wissen als Ärzte. Staatssekretär Karl-Josef Laumann meinte deshalb, „dass man in einem ersten Schritt dazu kommen muss, den Ergo- und Physiotherapeuten mehr Entscheidungsbefugnisse zuzugestehen und das Rezept des Arztes in einem zweiten unnötig zu machen.“
Dem stimmt Professor Gerlach prinzipiell zu, jedoch schränkt er ein, dass die Therapeuten dann zum Beispiel auch die Budgetverantwortung übernehmen müssten. Auch dürfe diese Form der interprofessionellen Zusammenarbeit nicht zusätzliche Schnittstellen schaffen: „Insofern ist da noch eine Wegstrecke zurückzulegen.“
Bislang werden die therapeutischen Leistungen in Deutschland von den Krankenkassen nur nach der Verschreibung durch einen Arzt übernommen. „Studien der OECD zeigen, dass diese Gesundheitsberufe in anderen Ländern längst einen ganz anderen Stellenwert haben“, mahnte die Moderatorin Professor Dr. Ursula Walkenhorst, Professorin für Didaktik der Humandienstleistungsberufe an der Universität Osnabrück.
Schlechte Bezahlung
Auch sei die Bezahlung in diesen Berufen zu schlecht. „Darüber entscheidet bei uns viel zu sehr der Status der Ausbildung. Nicht aber die Übernahme von Verantwortung“, bedauert Ralf Klose, kaufmännischer Direktor des Netzwerkes heilpädagogischer Hilfen Niederrhein im Landschaftsverband Rheinland.
Und Dr. Almut Satrapa-Schill betont als Vorsitzende des Fördervereins Nationaler Gesundheitsberuferat, dass sich die Ausbildung enorm gewandelt habe: „Das Heilberufegesetz entspricht überhaupt nicht mehr der Professionalität und Vielfalt der pflegerischen und therapeutischen Berufe.“ Franz Müntefering mutmaßt zudem, dass die Bezahlung eine Frage der Geschlechter sei: „Wenn in der Pflege und in den KiTas genausoviel Männer wie Frauen arbeiten würden, wären die Löhne längst höher.“ Dafür gab es von den 200 Zuhörern spontanen Applaus.
Unmöglich findet Laumann, dass man in sechs Bundesländern für die Altenpflegeausbildung sogar noch bezahlen müsse. „Auch die Absolventen unserer Bildungsakademie zahlen 395 Euro pro Monat“, ergänzte Akademie-Leiter Andreas Pfläging – ohne dass dieser Beitrag kostendeckend wäre.
Pflegekräfte in Praxen
Modelle, diese medizinischen Berufe attraktiver zu machen und Ärzte zu entlasten, gebe es genug. Laumann: „Gerade haben wir erst 300 Millionen Euro aus den ärztlichen Budgets herausgenommen, damit in den Praxen Pflegekräfte angestellt werden. Das wäre für die meisten Arztverbände vor fünf, sechs Jahren noch undenkbar gewesen.“
Franz Müntefering sagte: „Lasst uns das Sauerland doch einmal zu einer Gesundheitsregion erklären und prüfen, was man verändern kann.“ Dazu bestünden nach Meinung von Dr. Almut Satrapa-Schill aber schon Möglichkeiten, die gar nicht ausgeschöpft würden: „Modelle gibt es genug. Lasst uns endlich anfangen. Wir haben keine Zeit mehr!“ Auch dafür spendeten vor allem die Auszubildenden aus der Bildungsakademie viel Beifall.
Professor Dr. Ferdinand Gerlach weiß als Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Goethe-Universität in Frankfurt: „Die bisherigen Maßnahmen sind nicht ausreichend. Noch bekommt das die Bevölkerung nicht so sehr zu spüren. Aber das wird sich in den nächsten Jahren eklatant ändern.“ Qualität und Attraktivität der Ausbildung seien der Schlüssel, das zu verbessern. Auch Karl-Josef Laumann ist überzeugt: „Im Bundestagswahlkampf 2017 wird die Gesundheitsversorgung – gerade im ländlichen Raum – ein zentrales Thema sein.“
Strukturierte Dialogformen
Dr. Almut Satrapa-Schill, die lange Zeit den Bereich „Zukunftsfragen der Gesundheitsversorgung“ der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart geleitet hat, fordert von der Gesundheitswirtschaft, dass sie deutlich macht, welche medizinischen Berufe man wirklich braucht: „Dazu fehlt es aber an strukturierten Dialogformen. Was die finanzielle Ausstattung oder die Forschungsorganisation angeht, sind pflegerische und therapeutische Berufe noch nicht als bedeutsam erkannt.“
Daher auch Laumanns Vorschlag, legitimierte Verhandlungspartner zu benennen, eine Pflegekammer zu gründen. Ralf Klose appellierte direkt an die Auszubildenden der Bildungsakademie: „Ich erwarte von Ihnen Druck. Zeigen Sie, dass Sie da sind. Stellen Sie Ihre Arbeit in den Mittelpunkt des Gesundheitswesens!“
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